REBELLEN IN AMERIKA – ZU FILMEN DES NEW AMERICAN CINEMA
von Werner Herzog



Der Schauplatz war München – genauer gesagt: jenes verdienstvolle Filmkunststudio im Zentrum Schwabings. Anlass war eine Ausstellung von etwa dreißig Filmen des New American Cinema, die auf Einladung des Deutschen Instituts für Film und Fernsehen nach München gekommen war. (vgl. auch: “Der neue amerikanische Film” in Heft 36)

Die Auseinandersetzungen waren heftig; Zustimmung und Ablehnung bewegten sich durchweg in hohen Phonbereichen. Als der jegliche Kontinuität zertrümmernde und in seiner optischen Aggressivität bis zur Unerträglichkeit forcierte Trickfilm Blazes von Robert Breer aus Versehen ein zweites Mal lief, wurde von einer protestierenden Partei das Projektionsfenster zum Vorführraum verstopft; und als der 2 1/4-stündige, bis zur Erschöpfung in sich kreisende Film Flaming City von Dick Higgins gezeigt wurde, erlebten nur ein paar Zuschauer im entvölkerten Saal das Ende der Aufführung: die anderen hatten längst das Weite gesucht.

Bezeichnenderweise nahm die deutsche Filmkritik – wohl wegen der Tragweite eines solchen Ereignisses verschreckt oder aber aus ihrem fossilen Zustand gar nicht mehr aufschreckbar – bisher nahezu keine ernsthafte Notiz von den intensiven, nun schon etwa ein Jahrzehnt sich entwickelnden Bestrebungen der amerikanischen Avantgarde: von denen also, die mit Konsequenz an den Ergebnissen der surrealistischen Experimente weiterarbeiten.

Wieweit man überhaupt von einer Gruppe sprechen kann, ist fraglich. Aber trotz der immensen künstlerischen Differenzen zwischen den einzelnen Persönlichkeiten lassen sich bei einigem guten Willen eine Reihe gemeinsamer Züge herauskristallisieren, wenn auch einem solchen Verfahren volle Legalität versagt bleiben muss. Von einer Gruppe kann spätestens seit dem Herbst 1960 die Rede sein, als sich in New York jener lose Zusammenschluss von 23 Filmschöpfern vollzog, der analog zu ähnlichen Vereinigungen als Geburtsstunde des New American Cinema bezeichnet wird, – auch wenn dieses damals schon auf ein profiliertes Embryonalstadium zurückblicken konnte. Das erste gemeinsame Statement, das publiziert wurde, enthält bezeichnenderweise keine Manifestation eines genau fixierten künstlerischen Programms, sondern beschränkt sich auf eine Kampfansage an Zensur und Filmindustrie und endet mit der radikalen, in kunsttheoretischer Hinsicht aber tendenziösen Forderung: “Wir wollen keine rosigen Filme – wir wollen sie in der Farbe des Bluts.”

Doch wurde im Anschluss an diese Vereinigung, was bisher als Novum dasteht, ein Kooperativ gegründet, das mit prozentual abgeschöpften Gewinnen erfolgreicher Werke finanziell nicht hinreichend gesicherte Projekte einzelner Mitglieder subventioniert. Diese Maßnahme ist insoweit besonders wichtig, als die soziale Außenseiterposition (es wäre nicht richtig, den Begriff Beatnik synonym zu verwenden) der Autoren zur Hoffnungslosigkeit einer kommerziellen Auswertung ihrer Arbeiten beiträgt.

Aus dieser prekären finanziellen Situation resultiert als gemeinsames Kennzeichen die fast totale Reduzierung des Produktionsapparates, die eine weitgehende Liberalisierung vom Zwang des Kapitals und der Produzenten erlaubt. Der abendfüllende Film Guns of the Trees von Jonas Mekas, dem Chefideologen und Herausgeber von “Film Culture”, kostete nur den phantastisch anmutenden Preis von 9000 $. Bei den Filmen der “New Yorker Schule” handelt es sich zum großen Teil um Ein-Mann-Projekte, die eine weitgehende Homogenität des Werkes garantieren. Exemplarisch für diese Arbeitsmethodik ist Brakhage, der seine Filme in eremitenhaften Alleingängen macht.

Ein weiteres, mehr äußeres Kennzeichen dürfte wohl die im Durchschnitt erstaunliche Jugend der Filmschöpfer sein. P. Adams Sitney, Redakteur bei “Film Culture”, der die Exposition durch Europa leitet, ist 19 Jahre alt; Gregory Markopoulos begann mit 12 Jahren, Filme zu drehen; und Brakhage, wohl die bedeutendste Erscheinung unter ihnen, hatte, bevor er 20 wurde, mit Hilfe von Geld, das er sich sporadisch als Spezialist für Mikrophotographie verdienen musste, bereits vier oder fünf kürzere Filme gemacht. Sie und ihre Werke deshalb aber als pubertär zu apostrophieren, wäre unzulässig. Mögen auch die äußeren Umstände einen solchen Schluss nahelegen, so widerspricht dem doch das Fehlen eines in solchen Fällen charakteristischen selbstzweckhaften Protests gegen erstarrte Konventionen.

Im Gegenteil: Die meisten der Filme – man muss annehmen, dass sie einigermaßen repräsentativ sind – zeichnet eine Sicherheit in der Konzeption aus, die dem Stadium des rein Experimentellen nicht mehr zuzuordnen ist. Es ist aber keineswegs so, dass das Experiment negiert wird. Die Versuche haben beispielsweise auch zu Ergebnissen geführt, die durchaus noch einer genaueren Prüfung bedürfen. Etwa das minutenlange Grau auf der Leinwand als Auftakt des an antike Mythologie anknüpfenden Films Twice a Man von Markopoulos, das mehr Irritierung, als eine Steigerung der Erwartung hervorrief; oder der Versuch von Brakhage, sich von der photographischen Rezeption der Objekte freizumachen, um diese selbst in Aktion zu versetzen, indem er durchsichtige Schmetterlingsflügel oder Blütenblätter direkt auf den Filmstreifen klebt und dann auf die Leinwand projiziert.

Was aber die Arbeiten der Gruppe so bedeutungsvoll macht, ist schon längst kein Experiment mehr. Es ist die Tendenz zur Selbstbesinnung des Films auf seine ureigensten Mittel, d. h. die Tendenz, das Fundament einer neuen Filmästhetik zu festigen, die nichts mehr mit Kategorien wie Literatur oder Theater gemein hat. Was da praktiziert wird, ist ein Destillierungsprozess rein filmischer Ausdrucksweisen, der die traditionelle Adaption theatralischer und literarischer Formen als Rückstand ausscheidet. Hier ist auch das bloße Sehen nicht mehr hinreichend; die Filme haben meist tiefere, visionäre Bezüge. Aus diesem visionären Sehen ergeben sich zweierlei:

1. Die Visionen ereignen sich; sie werden nicht literarisch, also durch ein genaues Script forciert, woraus sich die fast spielhaft zu nennende Spontaneität in der Genese einer Reihe der Filme ergibt. Das bekannteste Beispiel dafür ist der zum größten Teil improvisierte Film Shadows von Cassavetes, der aber inzwischen von dem Kreis derer um “Film Culture” abgelehnt wird, weil für die kommerzielle Auswertung verschiedene Szenen nachgedreht wurden. Bei Chumlum von Ron Rice ist am auffälligsten das spielhafte Element. Die üppig-schwülstige Farbigkeit des Films bringt durch seine rhythmischen Arabesken und seine Überlagerungen immer neue Varianten einer übersättigten, phantastischen Atmosphäre der Sinnlichkeit hervor. In ihm wird die Sexualität vollends zu einem spielhaften Ausdruck.

2. Das visionäre Sehen erfordert ein neues Verhältnis zur Realität. Das betrifft einerseits den dokumentarischen Charakter jeder Filmaufzeichnung, der aber bewusst durch Kamerabewegungen, Montage oder bestimmte technische Verfahren beim Kopieren so manipuliert wird, dass damit ein anachronistischer Naturalismus überwunden werden kann. Zum anderen betrifft es einen neuen Stil der Darstellung. Auf diesem Gebiet werden bemerkenswerte Anstrengungen unternommen. Blonde Cobra von und mit Jack Smith ist dabei prinzipiell auf dem Weg dazu, auch wenn der Film einen unartikulierten Eindruck macht. Er war bei allem Erstaunlichen, was gezeigt wurde, wohl der ungewöhnlichste Film der Ausstellung. In gleichsam fragmentarischen Stücken – zwischen sie ist immer wieder minutenlanges Grau auf der Leinwand zu sehen – bietet er ein kondensiertes Pandämonium homosexueller Qualen, die der Protagonist mit exhibitionistischer Übersteigerung demonstriert.

Wie sehr sich ganz gegenständliche Filme der Erzählbarkeit entziehen, zeigt der bereits erwähnte Film Guns of the Trees von Jonas Mekas, der nicht auf einem literarischen, sondern einem rein philosophischen Vorwurf basiert. Fünf junge Leute geraten in eine existenzielle Krise, aus der sich kein Ausweg zeigt. Doch sie rebellieren nicht gegen die Gefährdung durch ihre apokalyptisch anmutende Umgebung – ihnen bleibt nur die Emigration in die Apathie, in die vage Hoffnung, die Ben, ein Versicherungskaufmann und seine farbige Frau Argus auf ihr noch ungeborenes Kind setzen, überhaupt sind die Szenen mit diesen beiden Darstellern von hoher künstlerischer Dichte. Mekas sagt selbst: “Mein Film registriert lediglich die Bereiche der Angst. Es gibt keine Lösungen. Mein Film blinkt nur rote Lichter. Guns of the Trees ist recht eigentlich meine Meditation über Liebe und Tod in einer Stunde höchster Gefahr.” In formaler Hinsicht fallen die rhythmisch unruhige Interpunktion durch weiße Zwischenstücke, sowie das mehrmalige Auftreten von zwei Narren auf, die ähnlich dem Chor der antiken Tragödie eine kommentierende Funktion übernehmen.

Am deutlichsten hat Stan Brakhage mit The Dead gezeigt, dass ein philosophischer Gedanke nicht im sprachlichen, sondern im rein visuellen Substrat erlebbar ist. In Anlehnung an einen Gedankengang Wittgensteins lässt er den im diesseitigen Leben strukturierten Tod in düsteren, intensiven Bildern sichtbar werden. Dazu schichtet er schwarz-weiße und farbige Bilder, symbolisch für bestimmte Grundformen des Todes, in unruhiger Folge übereinander. Gerade diese Unruhe ist ein auffälliges Symptom der New American Cinema Group.

Interessant ist auch, welch hoher Anteil der Werke sich direkt mit dem Problem des Todes auseinandersetzt. So etwa Thanatopsis von Ed Emshwiller, Anticipation of the Night und Sirius Remembered von Stan Brakhage, um nur einige zu nennen, über Brakhage mokierte sich Enno Patalas in “Filmkritik”. Es handelt sich bei den von ihm als “Hundefelle” identifizierten Objekten um den Kadaver eines Hundes, der in einem Gestrüpp krepierte. Aus diesem Fund machte Brakhage eine 10 Minuten lange, atemberaubende Studie über Tod und Vergänglichkeit, indem er einen wilden Tanz mit der Kamera um den verwesenden Körper vollführt. Der kosmische Vorgang der Umwandlung von Leben in bloße Materie wird durch die Bewegung zu einem vom Zyklus der Jahreszeiten begleiteten Ereignis von ständiger, höchster Aktualität. Die formale Disziplinlosigkeit erweist sich somit als eine nur scheinbare. In ihr steckt vom ersten Schwenk an hohe artifizielle Perfektion.

Wohl einer der erregendsten Beiträge der Ausstellung war der halbstündige Film Scorpio Rising von Kenneth Anger, der auch in Knokke und außer Konkurrenz in einer Nachtvorstellung in Oberhausen lief. (Über das verdienstvolle “Dritte Internationale Experimentalfilm-Festival”, das vom 25. 12. 1963 bis 2. 1. 1964 in Knokke veranstaltet wurde, ist bisher in FILMSTUDIO noch nicht berichtet worden. Die dort gezeigten Filme haben erneut darauf aufmerksam gemacht, dass eine ausführliche Analyse des Experimental- und/oder Avantgardefilms notwendig geworden ist. In Form eines Festivalberichts hätte dies naturgemäß nur unvollständig bewältigt werden können, zumal zahlreiche andere – wenn auch weniger bekannt gewordene – Versuche der letzten Jahre mitberücksichtigt werden sollten. Wir werden deshalb in einem der nächsten Hefte einen größeren Aufsatz zu diesem Thema publizieren, der auch auf die in Deutschland fast völlig unerörtert gebliebenen sog. ,happenings' eingehen wird.) Der Mangel an Courage von Seiten der Festival-Leitung hätte kaum besser dokumentiert werden können, zumal es sich bei dem ausgeschlossenen Film um den mit Abstand besten der Festspiele handelte. Ihm soll hier noch etwas Platz eingeräumt sein. Scorpio Rising lässt sich äußerlich in etwa vier Abschnitte einteilen, die Kenneth Anger selbst folgendermaßen markiert hat (Film Culture 31) “Eine hohe Sicht vom Mythos des American Motorcyklist. Die Maschine als Stammestotem, vom Spielzeug zum Terror. Thanatos in Chrom und schwarzem Leder. Teil I: Zwanzigjährige und Zylinderkolben (männliche Faszination und das Ding, das sich bewegt). – Teil II: Image Verfertiger (aufgeputscht durch die Heroen). – Teil III: Walpurgis Party (Cykler's Sabbath). – Teil IV: Aufrührer (eine Botschaft von Unserem Bürgen).” Doch handelt es sich bei dem relativ leicht verständlichen Film weder um einen “phänomenologischen Dokumentarbericht”, noch hat der Autor “seine individuellen Neigungen kritisch objektiviert”, wie Enno Patalas vorschnell und unkritisch mutmaßt, denn dazu fehlt dem selbst so intim beteiligten Anger einfach die erforderliche Distanz oder die nötige Ironie. Nicht von ungefähr hatte der Autor Skrupel bei der Veröffentlichung seines Filmes, der er eine an einen Akt der Selbstzerstörung grenzende Konfession beimaß.

Scorpio Rising ist ein Bericht (aber kein Dokumentarbericht) über eine Rotte amerikanischer Motorradfahrer, von deren Ritualen und homosexuellen Exzessen. Er beginnt gleichsam rituell, mit einer unglaublichen Langsamkeit und Präzision, die kaum auszuhalten ist. Mit aufreizender Faszination hält die Kamera an den Motorrädern fest und zeigt dann die Fahrer, die sich der Reihe nach mit einer fast dämonischen Zielbewusstheit erheben und ankleiden. Zu ihrem Ornat gehören lederne Jacken, lederne Stiefel, Nieten und eiserne Ketten anstelle von Gürteln. Dann feiern sie eine homoerotische Orgie, veranstalten ein Rennen und betätigen sich unter SS- und Totenkopfbannern als Neo-Nazisten. Das Ganze begleitet in aufdringlicher Weise Schlagermusik, die allein in ihrer Penetranz jede Aktion der “Heroen” zu motivieren im Stande wäre. Dazu kommen Bilder von James Dean an den Wänden und Supermen in comic stripes, sowie eingeblendete Szenen mit Christus aus “König der Könige” und Marion Brando aus “Der Wilde”.

Diese Einblendungen sind weniger als psychologische Motivation für das in solcher Umwelt provozierte Verhalten der Motor Cyklists zu verstehen, noch weniger sind die Aufnahmen mit Christus als Kontrast gedacht. Es sind dies in das Geschehen integrierte Bestandteile, die, wie schon im Titel angedeutet ist, in ihren Bezügen astrologische Aspekte eröffnen. Durch sie erhält der Film eine weitere Dimension: Motorradfahrer, Marlon Brando, Hitler und Christus sind Vertreter der im Zeichen des Skorpion Geborenen. Sie vereint – nach Anger – die Nähe zu Untergang und Auferstehung, die charismatische Potenz ihres Auftretens und die messianische Gewalt ihres egozentrisch gesteuerten Aufruhrs, so dass die Parallelität geradezu in totaler Identifikation mündet. Das Resultat dieses Eins-Seins von Hitler, Christus und Marlon Brando in der Figur des Motor Cyklist findet sogar noch an den Emblemen des Todes zynischen Gefallen. Das Ergebnis ist ein Film voll wilder, grausamer Schönheit; ein Meisterwerk.

Ein Problem, das sich schon im Ausschluss von Scorpio Rising aus dem offiziellen Oberhausener Programm gezeigt hatte, ist das Verhältnis der Filmschöpfer zum Publikum. Hier müssen ganz neue Wege gefunden werden, um nicht der Esoterik anheimzufallen. Zwar weisen Ansätze auf bestimmte neue Gattungen im Film, die etwa analog zu den literarische Formen des Briefs und des Tagebuchs sind. Marie Menken hat den 3minütigen Trickfilm Dwightiana ursprünglich nur für eine einzige Person gedreht, für einen kranken Freund nämlich, den sie damit aufheitern wollte. Sie hat auch einen ständig in Ergänzung begriffenen Film, Notebook, in Arbeit, der wahrscheinlich nur in intimsten Kreis zur Aufführung gelangt. Weil aber kommerzielle Verbreitung durch Verleiher vorerst so gut wie gänzlich ausgeschlossen ist, steht nur noch der Weg des “home-cinema” offen, d. h. man bemüht sich um eine Verbreitung der Filme in 8-mm-Kopien, die im privaten Kreise beliebig oft gespielt werden können. Dass diese Lösung nur ein Provisorium sein kann, darüber ist man sich gewiss klar.

Es bleibt zu hoffen, dass dem New American Cinema das Schicksal der Avantgardisten der zwanziger Jahre erspart bleibt. Doch alle Anzeichen weisen darauf hin, dass eine solche Hoffnung vorerst noch ins Reich der Utopie verwiesen werden muss.


(Filmstudio Heft 43, Mai-August 1964, S. 55-60)

 

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